Expressionismus

Ich mag Expressionismus. Also, nicht die Bilder. Auch nicht unbedingt die Literatur. Eher das Prinzip dahinter. Das Prinzip, Dinge so auszudrücken, wie man sie empfindet. Genau in diesem Moment. Und nicht, wie sie tatsächlich sind. Und genau da steckt das Problem. Denn, lasse ich einen Moment auf mich einwirken, kann ich ihn nicht festhalten. Halte ich ihn fest, kann ich ihn nicht auf mich einwirken lassen. Und je länger die Zeit ist, die zwischen diesen beiden Aktionen liegt, dem Einwirken lassen und dem Festhalten, desto mehr gerät die Empfindung, der Eindruck, in Vergessenheit.

Schade ist das.

Aber es lohnt sich dennoch, mit offenen Augen und das Leben bejahend durch die Welt zu gehen. In jedem Moment etwas besonderes zu sehen. Auch wenn man eine Straße passiert, die man schon zig mal passierte und Menschen begegnet denen man schon zig Mal begegnete. Denn manchmal belohnt einen das Leben für seine Aufmerksamkeit. Dafür, dass man sich nicht hinter viel zu lauter Musik in sich selbst vergräbt. Und wenn man nur die Erkenntnis erntet, dass das Alltägliche auch ab und an wundervoll sein kann.

Wenn man zum Beispiel über einen Markt geht. Und die Gerüche auf sich einwirken lässt. Da ist zuerst der Stand, der so penetrant nach Fisch riecht. Schon beim folgenden Kleiderstand wird der Geruch schwächer. Schließlich schleicht sich ein leicht süßlicher Duft an, der von frisch gebackenen Waffeln. Du lächelst noch, da trifft dich der würzige, knusprige Duft von gegrillten Hähnchen mit Pommes.

Dann die Menschen. An einem Stand am Anfang der Mann, der ein Inder sein könnte. Der aussieht, als wäre sein Kopf etwas zu klein für seinen Körper oder sein Körper etwas zu groß für seinen Kopf. Der ganz entspannt nach hinten gelehnt sitzt, die Menschen beobachtet. Und wenn du an ihm vorbeiläufst hörst du, wie er ganz leise eine Melodie summt. Auf dem Weg begegnet dir der Opa mit seiner Penny-Tüte und seinem Gehstock, den er jeden Tag so hektisch-schwungvoll auf den Boden pingt. Der jeden Tag den gleichen Gesichtsausdruck hat. Er schaut gerade aus, den Mund leicht geöffnet. Und dann bleibt er kurz stehen, schaut sich kurz um. Und geht wieder weiter. Dann siehst du, dass ein Stand fehlt. Die sehr modische, aber etwas stark geschminkte Frau mit ihren Schals und Accessoires ist heute nicht da. Der große Obststand fehlt auch. Dafür sehe ich an dem Wurststand eine Frau mit einem kleinen weißen Hund. Er ist wirklich herzallerliebst. Die Umstehenden schauen ihn schon die ganze Zeit lächelnd an, wie er versucht sich so aufrecht wie möglich zu stellen, um auch ja alles zu sehen, was sein Frauchen auch sieht. Um die Quelle des leckeren Wurstduftes auszumachen. Er ist auch so zu klein, aber er versucht es immer wieder. Und scheint dabei zu lächeln. Hunde sehen, wenn sie hecheln, immer irgendwie aus, als wenn sie lächeln. Als wären sie glücklich und zufrieden. Dir fällt dabei auf, dass die meisten Menschen auf diesem Markt eher traurig oder verbissen drein blicken. Und zwingst dich dazu, dagegen an zu lächeln. Dann läufst du an einem Mann vorbei, der so laut und deutlich redet, dass man jedes Wort versteht. „Du wohnst jetzt hier in Deutschland?“, fragt er eine Frau. Die antwortet entweder gar nicht oder so leise, dass man im Vorbeigehen nichts versteht. Der Mann fährt fort: „Du wohnst ja jetzt hier! Und hier in Deutschland sind nur ehrliche Menschen!“ Ja, schön wär’s… Du kommst an einem weiteren Kleiderstand vorbei. Und wunderst dich. Ist dieser Mann, der etwa so aussieht wie ein Armenier, sonst nicht normal weiter hinten? Und dann auf der linken Seite? Er ist heute aber auf der rechten Seite und viel weiter vorne! Allerdings sieht es so aus, als würde er sich mit dem, dem der Stand eigentlich gehört, unterhalten. Das ist O.K., denkst du dir. Das passt ins Bild. Dann der Stand mit den Blumen. Schnittblumen und welche für den Garten. Und wie jedes Mal wunderst du dich, wieso zwei junge Männer sich dazu entschieden haben, auf dem Markt Blumen zu verkaufen. Es sieht seltsam aus. Dann, kurz vor Ende des Marktes der Stoffstand. Mit dem Opa, der eine Markt-Stimme hat. Eine Stimme, die quäkig klingt. Aber durchdringt. Man hört ihn von weitem. Und das sehr gut. Er hat eine richtige Markt-Stimme. Und nutzt sie, seine Ware anzupreisen. Was sonst übrigens nicht viele tun.

Auf dem Rückweg überholst du erneut den Gehstock-Pennytüten-Opa. Du fragst dich, ob du ihn vielleicht beim nächsten Mal grüßen solltest, wo du ihn doch jedes Mal siehst. Doch beantwortest du dir die Frage nicht. Im Vorbeigehen stellst du dir aber kurz vor, wie er einen Moment stehen bleibt um sich umzuschauen, wie er es schließlich immer macht. Dann gehst du denselben Weg zurück. vorbei an den Brathähnchen, den Waffeln, die jetzt aber plötzlich nach frischem Kaffee riechen, und dem Fisch. Du wunderst dich kurz, dass die lebende Statue nicht in ihrer Ecke steht, wo sie sonst immer steht und kurz mit einem Quietscheball quietscht, wenn einer an ihr vorbeiläuft. Um etwas Aufmerksamkeit und vielleicht ein paar Münzen zu erhaschen. Du denkst kurz darüber nach, wie du jedes Mal bewusst nicht hinschaust, dem Blick ausweichst und fragst dich wieso eigentlich. Vielleicht schaust du nächstes Mal hin, lächelst, grüßt. Vielleicht auch nicht, man wird sehen.

Und dann bist du auch schon wieder an deinem Startpunkt angekommen.

Und fragst dich, wieso du diese alltäglichen Momente heute so intensiv wahrgenommen hast. Welch starken Eindruck sie bei dir hinterlassen haben, obwohl alles so war wie immer. Und weißt schon, dass dieser nicht lange halten wird. Dass selbst das, was du jetzt hier liest nicht mehr zu dem passt, was du in dem Moment dachtest und erlebtest. Weil der Moment vergangen ist. Und mit ihm die Chance, ihn so festzuhalten, wie du ihn erlebtest. Du hältst ihn trotzdem fest, dann eben eher wie er war und nicht wie du ihn erlebtest. Noch eher, wie du dich erinnerst wie er gewesen sein könnte, aus der Erinnerung deiner Empfindungen heraus.

Schade ist das.

4 Gedanken zu „Expressionismus

  1. Einfach der Wahnsinn! Von vorne bis hinten super stimmig und erstaunlich wie es wirklich exakt so viel von der Epoche übernimmt und sich einreiht.

    • Wuhu danke!
      Wobei das nur unbewusst zustande kam… Primär ging’s halt wirklich um diesen einen besonderen Moment… dass das ganze irgendwie zum Expressionismus passt, dachte ich mir dann später dazu ;->
      Aber zum Glück ist das Ganze sachlich und inhaltlich nicht in den Dadaismus abgerutscht 😀

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